Berlin, Stockholm oder London: Eine sportliche Standortbestimmung

Als Moderne Fünfkämpfer berufen wir uns gerne auf den Erfinder unseres Sports, Pierre de Coubertin, der sich diesen speziell für die Modernen Olympischen Spiele ausgedacht hatte.

Auch das Internationale Olympische Komitee und alle nationalen olympischen Verbände berufen sich gerne und oft auf das Erbe Coubertins und seine olympische Bewegung, bevor sie sich wieder der Vermarktung dieser Idee, die zum Milliardengeschäft geworden ist, zuwenden.

Coubertin und das Olympische Manifest

Jungen Sportlern ist Coubertin höchsten noch als freundlicher Grüßonkel in schwarz-weiß mit Schnurrbart und seltsam altmodischem Auftreten aus Festschriften bekannt. Schon Goebbels spottete 1936 während der ersten medial inszenierten Olympischen Spiele, die Olympier sähen aus wie Direktoren von Flohzirkussen.

Wer sich jedoch die Mühe macht, Coubertin selbst zu lesen, ist leicht überwältigt von der Modernität der Diskussion. In dem Vortragsmanuskript von 1892 an der Sorbonne zur Schaffung der Modernen Olympischen Spiele (später als Olympisches Manifest bekannt geworden) hat der damals erst 29 jährige eine Diskussion angestoßen, die bis heute anhält: was soll der ganze Sport und warum bewegen wir uns eigentlich.

Le Manifeste

Hier seine einleitenden Sätze, die das Spannungsfeld umreissen und die damaligen Hauptstädte der Bewegungskultur, Berlin, Stockholm und London und ihre Identität als Kriegs-, Hygiene- und Sportkultur beschreibt:

Berlin, Stockholm, London

Es folgt die Beschreibung des deutschen Sytems. Hierarchisch-durchorganisiert mit dem externen, nationalen Ziel, jederzeit für höhere Dinge bereit zu sein:

BerlinDarauf folgt das Gegenmodell Schwedens, welches wir heute wohl als wissenschaftlich untermauerten Gesundheitsport bezeichnen würden. Es hat das Ziel der Volksgesundheit, läßt alle mitmachen (auch die Kinder, Alten und Schwachen), schätzt den Wettkampf gering aber ist dafür gut für das Herz:

Stockholm

Und schliesslich sein Idealmodell englischer Prägung, welches von den Engländern den Namen Sport (jedoch in einer engeren Deutung als heute) bekommen hat, philosophisch in der Antike verankert ist und zur Erziehung vor allem des jugendlichen Menschen beitragen soll:

London1

Ganz wichtig ist dabei, dass die Definition des Sports zweckfrei ist. Es ist zwar nicht falsch, auch über Krieg (heute eher nationale Medaillenspiegel) und Gesundheit (z.B., Herzsport) nachzudenken, doch ist der eigentliche (Wettkampf-) Sport mit seinen interessanten Herausforderungen sich selbst genug:

London2

Wo stehen wir 128 Jahre später

Die Welt der körperlichen Betätigung von heute hat dank der Globalisierung keine drei Hauptstädte mehr aber dennoch die gleichen drei Systeme, die miteinander konkurrieren.

Coubertin, Katar und Coca-Cola

Steht die Praxis der Olympischen Spiele heute eher für Coubertins Londoner oder doch für das Berliner System? In den meisten Disziplinen sind bei Olympischen Spielen neben einer verschwindent kleinen Zahl an gutverdienenden Profis meist „Diplomaten in Trainingsanzügen“ in der Tradition der untergegangenen DDR am Start. Diese sollen einerseits durch Erfolge im Medaillenspiegel den nationalen Ruf mehren (man denke nur an das systematische Staatsdoping Russlands, um zumindestens als sportliche Großmacht weiterhin wahrgenommen zu werden) und werden – auch hier ganz in der Tradition der damals stark kritisierten Staatsamateure des alten Ostblocks – als Sportsoldaten und Sportpolizisten in vielen Ländern direkt vom jeweiligen Nationalstaat finanziert. So sind im Modernen Fünfkampf zum Beispiel alle Mitglieder des deutschen Olympiakaders Männer und Frauen in Uniform entweder bei der Bundeswehr oder Polizei (Stand August 2020).

Ebenso haben Großsportveranstaltungen wie Olympische Spiele oder Fußballweltmeisterschaften erhebliches Potenzial für die versuchte Reputationsverbesserung ganzer Nationen, die anders als von Coubertin erwünscht jedenfalls nicht eine demokratischen Mission des Weltfriedens verfolgen.

Was Coubertin hingegen noch nicht vorhergesehen hatte, war das enorme finanzielle Potential seiner Idee. Milliarden aus Fernsehrechten und die damit einhergehende Attraktivität für Sponsoren (am bekanntesten hier sicherlich der langfristige Partner des IOC und Marktführer für Diabetesbrause) passen jedenfalls irgendwie nicht zur olympischen Idee von 1892.

Fit for Fun

Die System Stockholm ist heute einerseits eine florierende Fitnessindustrie, die Gesundheit, Attraktivität und ein langes Leben verspricht. Diese steht aber andererseits einer unvorstellbaren Krise der Volksgesundheit gegenüber. Nur noch eine Minderheit der Bevölkerung ist metabolisch gesund und kommt den Minimalanforderungen an Bewegung nach.

Die Frage ist also wie im Jahr 1892 nicht, ob es besser wäre, wenn alle sich moderat bewegen würden (immer zu), sondern wie wir die Menschen dazu erziehen, lebenslang Freude an der Bewegung zu haben (und damit sicher mit der Jugend anfangen müssen).

est Londre?

Womit wir im System London also beim eigentlichen Sport wären: doch wo ist das heutige London? Sport als demokratische Idee und spielerischer Ausdruck menschlicher Kreativität? Sport als Wettkampf und doch als reiner Selbstzweck und nicht zur Mehrung nationaler Ehre, als Lebenserwerb oder als Teil der Unterhaltungs- und Werbeindustrie? Das klingt heute genauso utopisch und nicht weniger verrückt als vor 128 Jahren.

Dabei haben wir gegenüber der Situation im Jahr 1892 ein paar Vorteile. In der entwickelten Welt jedenfalls mangelt es uns über breite Bevölkerungsschichten hinweg weder an Zeit noch an finanziellen Ressourcen, um zweckfrei Sport treiben zu können. Auch ist Deutschland mit seinem flächendeckenden Vereinswesen ein idealer Ort des demokratischen Ausprobierens und unsere föderalistisch, dezentrale Grundhaltung dabei sicher förderlich. Das einzige was notwendig ist, sind Engagement und der Mut loszulegen und sich dabei manchmal auch belächeln zu lassen.

Oder – um mit Coubertin zu sprechen – gilt es unserer (bei ihm bezogen auf das noch zu gründende Olympische Kommitee) Pflicht nachzukommen „zusammen zu arbeiten, ohne viel Lärm viel Arbeit weg zu schaffen,  keine Subventionen anzunehmen, unsere volle Unabhängigkeit zu bewahren und schliesslich unsere Idee langsam aber sicher umzusetzen.“

Post Scriptum

Das Original Manuskript des Olympischen Manifests wurde bei Sotheby’s im Dezember 2019 für den Rekordpreis von 8.8m US$ ersteigert. Der Käufer wurde später als der russische Oligarch Alisher Usmanov (geschätzes Nettovermögen von 11.7 Milliarden US$) und derzeitige Präsident des internationalen Fechterbundes (FIE) identifiziert. Dieser vermachte das Manuskript im Februar dieses Jahres feierlich an das Olympische Museum in Lausanne, wo es seither der Öffentlichkeit zugänglich ist.

 

 

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