Freiheit für das Individuum – Unterschiede in der Ansprechbarkeit für Training

Coaching really is an individual philosophy. Mark Messier

Bevor wir uns um die praktische Umsetzung der theoretischen Gedanken zur Trainingslehre kümmern, hier noch ein weiterer Stein im Mosaik: die Antwort auf einen Trainingsreiz ist höchst individuell und unterschiedlich.

Nicht nur unterscheiden sich Individuen in ihrem anfänglichen Leistungsniveau (zu großen Teilen dank ihrer genetischen Ausstattung) sondern einige profitieren vom Training deutlich mehr als andere.

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Hier meine Schlussfolgerungen:

  1. Vom Training profitieren (fast) alle, wenn auch unterschiedlich stark
  2. Die Praxis ist wahrscheinlich noch komplexer: meine Hypothese ist, dass sich die Ansprechbarkeit nicht nur zwischen Individuen sondern auch innerhalb eines Individuums je nach trainierter Domäne („Hirn, Muskel, Herz„) unterscheidet
  3.  Zudem ist es unwahrscheinlich, dass die genetische Ausstattung, das unterstützende Umfeld (Familie, Schlaf, Ernährung) und die Ansprechbarkeit auf das Training unabhängige Parameter sind. Stattdessen ist (nicht nur) meine Hypothese, dass diese sich im positiven Sinne verstärken

Wie wir nun zu der echten Individualisierung eines Trainings kommen folgt.

 

Das Masters Manifest

  1. Körperlicher Missbrauch ist nicht gleich Altern. Der kranke Alte ist multimorbid, Insulin-resistent und übergewichtig, chronisch entzündet und schluckt viele Pillen. Doch sind seine Probleme kein Ergebnis des Alterns an sich sondern vielmehr das Ergebnis von falscher Ernährung, mangelnder Bewegung und zu wenig Schlaf. Über Zeit bezahlt jeder seinen Preis.
  2. Nichtsdestotrotz ist Altern real. Wer echtes Altern und nicht körperlichen Missbrauch untersuchen möchte, wendet sich Masters-Athleten zu, die intrinsisch und hoch motiviert auch im Alter noch versuchen, optimale und messbare sportliche Leistungen zu erbringen. Ergebnisse von Rekorden dieser Altersklasse zeigen, dass bis hin zum Alter von etwa 70 Jahren die Leistung nur schwach aber linear fällt, um dann etwas schneller zu sinken. Die Variabilität innerhalb der Altersgruppen ist allerdings so hoch, dass Alter allein nur eine geringe Vorhersagekraft besitzt (mit anderen Worten gibt es viele, die älter sind als Du, Dir aber trotzdem davonlaufen).
  3. Erfolgreiches Altern ist möglich. Erfolgreiches Altern definiert als die Vermeidung von Krankheit und Behinderung unter Beibehalt physischer und kognitiver Leistungsfähigkeit mit vollem Engagement im Leben ist möglich. Die Welt des Masters-Sports ist voller (berühmter und weniger berühmter) Beispiele.800px-lucas_cranach_28i29_-_jungbrunnen_-_gemc3a4ldegalerie_berlin
  4. Definiere Dich als Athlet. Das Wort Athlet kommt von dem griechischen Wort für Wettkampf oder Eroberung/Bezwingung eines Ziels. Ein Athlet ist daher nicht jemand, der sich lediglich bewegt (etwa, um mit dem Hund spazieren zu gehen oder zur Pilates Stunde zu gehen) sondern jemand, der ein spezifisches Ziel erreichen möchte. Dieses kann sowohl ein persönliches Ziel sein (z.B. die Kniebeuge mit dem Gewicht, das dem eigenen Körpergewichtes entspricht, zu beherrschen) oder auch ein Wettkampfziel (z.B. die Qualifikation für nationale oder internationale Meisterschaften) sein. In beiden Fällen jedoch ist das Ziel spezifisch, messbar und vom Athleten selbst zu artikulieren. Warum ist es so wichtig, sich als Athlet zu definieren? Der Grad des notwendigen Engagements, um die Herausforderung zu meistern, übersteigt den reinen Akt der Bewegung um ein Weites und schafft Transzendenz.
  5. Masters-Athleten haben nicht nur Ziele sondern konkrete Pläne, um diese zu erreichen. Wie jeder andere Athlet auch hat ein Masters-Athlet einen Traininingsplan, dem gegenüber er sich rechenschaftspflichtig fühlt.
  6. Das Training vom Masters-Atleten unterscheidet sich nicht von dem anderer Sportler. Die Trainingsprinzipien sind identisch zu denen anderer Sportler. Das Wesen der progressiven Überlastung gefolgt von Regenerationszeit, in der die physiologischen Anpassungen stattfinden, sind die gleichen und völlig unabhängig vom Alter.  Das bedeutet aber auch, das eine hohe Intensität, die eine Überlastung darstellt gerade auch im hohen Alter notwendig ist und das Training sich auch einmal hart anfühlen darf. Mit anderen Worten: wer noch ein Herz hat, sollte es auch im vollen Frequenzbereich nutzen. Selbstverständlich gilt es individuelle Unterschiede bezüglich Belastungsgrenzen und notwendiger Erholungszeit zu respektieren (übrigens auch unabhängig vom Alter).
  7. Altern ist eine Last (wie das Leben auch). Alter an sich ist ein Risikofaktor im Leben, da er die Kontaktzeit für nicht kontrollierbare Ereignisse erhöht und eine gewisse Abnutzung unvermeidbar ist, so dass zum Beispiel das Risiko für Osteoarthrose steigt. Jedoch haben auch viele jüngere Sportler Beschränkungen, die eine Trainingsanpassung erfordert, sie aber nicht davon abhalten, Leistungssport zu treiben (10 facher Olympiamedaillengewinner Gary Hall Jr. mit Diabetes Typ I, Michael Phelps mit ADHS), von den beeindruckenden Leistungen der Para-Athleten einmal ganz abgesehen. Also Begrenzungen erkennen, Training entsprechend anpassen und kreative Lösungen finden (in jedem Alter) – nur die wenigsten von uns sind mit einem perfekten Körper auf die Welt gekommen.
  8. Altern ist eine Freude (wie das Leben auch). Das Alter hat drei eindeutige Vorteile. Erstens lernt man, besser zu lernen und diese sogenannten Meta-Heuristiken lassen sich nur durch Erfahrungen (inklusive der notwendigen Umwege und Sackgassen auf dem Weg dorthin) erwerben. Viele der erfolgreichsten Masters-Athleten haben spät mit neuen Disziplinen angefangen (wie z.B. Olga Kotelko). Zweitens nimmt die Zufriedenheit mit dem Leben zu, da man sich an sich selbst gewöhnt und weniger vom Urteil der anderen abhängt. Also muss man auch weniger Sorgen haben, sich als Erwachsener Mensch in einem Wettkampf zu blamieren. Drittens haben (jedenfalls viele) Ältere Zeit und Geld, um es in ihr Training und die Reise zu Trainingslagern und Wettkämpfen zu stecken.
  9. Wettkampf schafft Gemeinschaft. Wettkampfsport schreibt Geschichten aus Emotionen, die danach rufen, mit anderen geteilt zu werden. Unter Masters-Athleten gibt es einen Sinn von Gemeinschaft, in der man sich nicht nur gegenseitig hilft und Gedanken teilt, sondern vor allem auch die Siege, Niederlagen, Platzierungen und damit verbundenen Erlebnisse und Erinnerungen gemeinsam und weit über den Wettkampftag hinausgehend zelebriert.
  10. Dankbarkeit und Präsenz. Das volle Engagement im Training, welches zu dem Tag des Wettkampfes und dem Moment führt, an dem man an der Startlinie steht,  schafft eine unvergleichbare Präsenz im Augenblick. Nicht nur diesen Körper zu haben, der zu so außerordentlichen, für jeden erreichbaren sportlichen Leistungen fähig ist, sondern diesen auch noch bewusst und mit höchster Intensität erleben zu dürfen, ist ein kosmisches Geschenk.